Interviews
Das Gespräch mit Nehmzow führte Freya Mülhaupt am 30.01.1993
„Ich versuche immer wieder mir selbst am nächsten zu sein“
Sie wurden 1949 in Schwerin geboren. Können Sie Ihren bisherigen Lebensweg kurz umreißen?
In Schwerin bin ich geboren, doch in Berlin bin ich aufgewachsen. Und hier habe ich eigentlich meine ganzen 43 Lebensjahre verbracht. Früh schon hatte ich künstlerische Neigungen, zunächst allerdings noch sehr unbestimmt und wenig zielgerichtet. Nach der Schulausbildung habe ich zunächst einmal Dekorateur gelernt. Nach Beendigung der Lehre und der Armeezeit konnte ich ein Fachschulstudium als Messe- und Ausstellungsgestalter absolvieren. Außerdem habe ich in verschiedenen Bereichen gearbeitet: im Theater als Bühnenbildner, beim Fernsehfunk als Szenenbildner und auch als freier Gebrauchsgrafiker. Mit 27 Jahren habe ich mich dann doch noch für die freie Kunst entschieden und mit dem Studium der Malerei an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee noch einmal von vorn begonnen.
Wer waren dort Ihre Lehrer?
Bei Hans Vent habe ich ein Jahr studiert, mein eigentlicher Lehrer aber war der Zeichner und Grafiker Dieter Goltzsche, bei dem ich vier Jahre studiert habe. Er hat mich stark beeinflusst und geprägt. Er war ein Lehrer, der nie die einzelne Arbeit korrigiert hat, sondern vielmehr durch Gespräche, durch Auseinandersetzungen über Kunst Haltungen vermittelt hat. Das finde ich auch heute noch wesentlicher als die unmittelbare Weitergabe von künstlerischem Handwerk.
Hans Vent und Dieter Goltzsche sind Repräsentanten der sogenannten Berliner Schule. Können Sie diese mit ein paar Sätzen charakterisieren?
Die Berliner Schule ist nicht durch einen gemeinsamen stilistischen Ansatz zu charakterisieren sondern nur über die Beschreibung einer künstlerischen Haltung. Sie knüpft an die Tradition der klassischen Moderne an, die Auseinandersetzung mit gestalterischen Fragen stand für sie im Vordergrund. Die Berliner Schule verweigerte sich der Staatsästhetik und -raison, der Illustration der politisch geforderten Themen . Ihre klassischen Motive wie Akt, Stillleben, Interieur, Landschaft waren durch den selbsterfahrenen Alltag und das jeweils individuelle Weltverhältnis geprägt. Diese konsequente Haltung hat auch jüngere Künstler überzeugt, sie haben der Figuration der Berliner Schule in den letzten zehn Jahren dann neue, auch ungegenständliche Positionen hinzugefügt.
Sind Sie auch der Berliner Schule zuzuzählen?
Ich gehöre ihrer dritten Künstlergeneration an.
Die Berliner Schule hat wegen ihrer Verweigerungshaltung ja keine offizielle Anerkennung genossen und wurde auch vom staatlichen Kunsthandel nicht vertreten.
Es war nicht leicht sich in dieser Haltung zu behaupten. Doch finden sich in ihrem Kreis letztendlich eher bedeutende Künstlerpersönlichkeiten als im Kreis derer, die sich den äußeren Ansprüchen angepasst haben.
An dieser Stelle möchte ich fragen, wie man als freiberuflicher Künstler ohne staatliche Förderung oder staatliche Aufträge in der DDR seinen Lebensunterhalt sicherte.
Also die Lebensumstände waren so, dass man sich mit wenig Geld durchschlagen konnte. Wir haben nicht, wie heute manch’ einer aus den alten Bundesländern annimmt, durch den Künstlerverband oder andere Institutionen ein Gehalt bezogen. Man musste sich selbstverständliche um seinen Unterhalt kümmern. Eine wichtige finanzielle Grundlage war für mich die Zirkelarbeit, d.h. die Leitung von Mal- und Zeichenkursen. Einkünfte hatte ich auch durch Grafikverkäufe und durch Aufträge für Grafikmappen, die von gesellschaftlichen Institutionen oder von verschieden staatlichen Betrieben kamen. Solche Aufträge waren hilfreich, ich konnte ihnen nachkommen, ohne mich in künstlerische oder politische Konflikte zu stürzen.
Welche Künstler aus Vergangenheit und Gegenwart waren oder sind heute noch für Sie wichtig?
Bis heute ist Dieter Goltzsche für mich eine vorbildliche Künstlerpersönlichkeit. Auch Charlotte Pauly, die ich noch kennengelernt habe, hat mich durch ihre große innere Unabhängigkeit beeindruckt. Dann war für mich die moderne Kunst von Cézanne, bis Matisse, von Giacometti bis Antes von Bedeutung und zu nennen ist in diesem Zusammenhang natürlich auch Picasso.
In der DDR waren weder in Museen noch in Ausstellungen Werke dieser Künstler präsent.
Wir haben uns vieles in der Sowjetunion angesehen: In Leningrad eine wunderbare Matisse-Sammlung, einen Picasso-Saal, in Moskau Cèzanne, Gaugin, van Gogh. In Prag gab es auch eine eindrucksvolle Sammlung. Der Zugang zur zeitgenössischen westlichen Kunst war allerdings eingeschränkter. Man versuchte sich über verschiedene Medien zu informieren. Auch wenn man unter einer großen Käseglocke lebte, die den Blick trübte, war das möglich. Man wusste was in der Welt passiert.
Konnten Sie auch einmal ins „westliche Ausland“, d.h. in die Bundesrepublik reisen?
Als „junger Künstler“ durfte ich zum ersten Mal um 1979/80 in den Westen fahren. Für diese sogenannte Studienreise wurden drei Tage oder höchstens eine Woche zugestanden. Ich war ganz schön gehetzt und hatte für „Kunsterlebnisse“ keine Muße. Das eigentliche Erlebnis bestand für mich darin, durch Mauer und Stacheldraht zu fahren, die normalerweise für Menschen meines Alters unüberwindlich waren. Ich sah eine flimmernde unwirkliche Welt, und als ich zurückkam sagte ich zu mir selbst: “Gott sei Dank kannst Du jetzt wieder in Dein Atelier gehen und musst dich nicht ständig diesem Wahnsinn aussetzen“.
Wenn ich mir Ihre hier im Atelier versammelten Werke ansehe, so bemerke ich einen deutlichen Wandel von den früheren Arbeiten zu denen aus jüngerer Zeit. Früher waren klassische Motive wie Akt, Landschaft, Stillleben Ausgangspunkt Ihres Schaffens. Mit den Papiercollagen, die in den letzten zwei Jahren zahlreich entstanden sind, scheinen sie sich vom Motiv weitgehend gelöst zu haben. Lassen Sie sich nun vom Material selbst herausfordern und inspirieren?
Die Sinnlichkeit des Stofflichen ist für mich nicht abstrakt. Der Ausgangspunkt ist für mich nach wie vor das Erlebnis, die unmittelbare Begegnung, die Auseinandersetzung mit dem, was ich sehe. Im Arbeitsprozess geht es dann darum, dafür eine Form zu finden. Dabei tritt der Bezug zur Wirklichkeit in den Hintergrund. Letztendlich aber ist er immer wieder da, und es findet sich oft eine Erfahrung, ein Gefühl, eine Stimmung in den Arbeiten wieder, die mir während ihres Entstehungsprozesses gar nicht bewusst waren. Ich bin dann oft selbst davon überrascht.
Der entscheidende Wandel der politischen Strukturen seit 1989 hat wahrscheinlich auch in Ihr Leben eingegriffen. Hat sich dieser Wandel auch auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Gesellschaftlich hat sich in den letzten Jahren vieles verändert, und das Leben muss ganz anders organisiert werden. Dass ich mich künstlerisch weiterentwickelt habe, sehe ich allerdings als einen natürlichen Prozess an, unabhängig von den äußeren Geschehnissen. Meine künstlerischen Probleme und Zielstellungen sind sich im Grunde gleich geblieben. Was die Möglichkeiten des Reisens betrifft, so kann ich allerdings sagen, dass das Kennenlernen von anderen Ländern, anderen Menschen, anderen Lebensweisen, für mich in vieler Hinsicht sehr wichtig war.
Sie konnten inzwischen gleich zweimal nach Japan reisen und Sie waren mehrfach in Italien. Früher haben Sie ausschließlich gemalt, gezeichnet, Druckgrafik hergestellt. Sind Sie durch diese Reisen wesentlich zu den Papiercollagen angeregt worden?
Ich male noch immer. Das hat sich bei mir oft schon hin und her verschoben. Es gab Zeiten, da machte ich sehr viel Grafik, nun sind es die Collagen. Das hat sich organisch aus der Auseinandersetzung mit den Reiseerfahrungen entwickelt. Stark angesprochen hat mich die mediterrane Landschaft, die Wärme, das Licht, die Farben, Eindruck hinterlassen hat bei mir auch die japanische Ästhetik. Aus Japan habe ich das Papier mitgebracht. Das Material bot sich geradezu an. Ich habe Papier gekauft aber auch gefunden, auf der Straße, auf dem Fischmarkt, überall. Ich erinnerte mich an vieles und so sind daraus immer mehr Arbeiten entstanden.
Könnten Sie die Entstehung der Papierarbeiten näher beschreiben?
Ich beginne ohne feste Vorstellung, der Arbeitsprozess ist für mich ein Abenteuer, von dessen Ergebnis ich mich überraschen lasse. Ich versuche die Materialien immer zu verfremden und in eine neue Qualität zu bringen. Die Arbeit baut sich in vielen Schichten auf und kann über Tage und Wochen gehen. Ich stelle immer wieder in Frage, zerstöre, setze neu an, suche eine Formstrenge. Ich verleugne zwar den lyrischen Aspekt in meiner Kunst nicht, habe aber immer wieder ein gesundes Misstrauen rein ästhetischen Kunstübungen gegenüber.
Ihre Papiercollagen wirken, trotz des fragilen Materials, fest und sicher gebaut.
Die Formung eines Bildes ist für mich Qualitätsmaßstab. Form und Farbe muss einfach stimmen, muss eine organische Einheit bilden oder, noch besser, in einer Winzigkeit immer daneben sein. Meine Schwäche ist manchmal, dass ich einen Punkt an die Stelle setze, wo der Punkt sein muss. Eine Arbeit muss immer ein Geheimnis haben, wenn alles stimmig ist, ist es langweilig.
Welche Bedeutung kommen den Buchstaben, zahlen, abstrakten Symbolen zu?
Sie sind nicht ganz wörtlich gemeint. Sie entstehen im Gestaltungsprozess. Die Formenvielfalt der japanischen Schriftzeichen, die immer reale Bezüge haben und gleichzeitig Wesentliches aussagen, waren sicherlich ein Auslöser. Insofern transportieren die Zeichen in meinen Collagen dann doch auch Inhaltliches.
Um noch einmal auf den Entstehungsprozess zurückzukommen: Arbeiten Sie an mehreren Collagen gleichzeitig?
Früher habe ich sehr lange an nur einer Seite gearbeitet. Heute entstehen drei bis fünf Arbeiten parallel. Ich bin lockerer geworden und versuche auch in Krisen eine heitere Gelassenheit zu bewahren. Auch das ist eine Entwicklung, die ich den Reisen verdanke. Die italienische Lebensweise, die südliche Wärme, und Tagesheiterkeit sind meinem Naturell sehr entgegengekommen. Deutsche Schwermütigkeit liegt mir eigentlich gar nicht. Hier konnte man sich früher in unterschiedlichen Lebensformen und -möglichkeiten nicht ausprobieren. Jetzt kann ich mich auch in meiner Arbeit anders entdecken.
Aus all dem, was Sie sagen, geht deutlich hervor, dass die Reisen der vergangenen Jahre Ihre künstlerische Arbeit nachhaltig beeinflusst haben.
Trotzdem möchte ich noch einmal betonen, dass sich an meiner künstlerischen Grundhaltung nichts verändert hat. Auf den Reisen sammle ich Eindrücke und Erfahrungen, die ich ins Atelier mitnehme, um sie zu verarbeiten. Hier findet der eigentliche Kampf statt. Ich könnte nicht auf die Konzentration im Atelier verzichten. Nur so kann ich mir selbst am nächsten sein und das Wesentliche treffen.
Gespräch zwischen Yusaku Masuda (Y. M) und Nehmzow (N) im August 1997
Auf einer Reise durch Europa sah ich im März 1994 in Paris in der Galerie Condé eine Ausstellung mit Bildern von Olaf Nehmzow. Nach Tokyo zurückgekehrt, nahm ich sofort Kontakt mit dem in Berlin lebenden Maler auf und ein Jahr später besuchte ich ihn in seinem Atelier.
Vom 5. bis zum 30. September 1995 realisierte die Galerie mmg die erste Ausstellung in Tokyo mit 31 Arbeiten auf Papier.
In der Phase der Vorbereitung mit der im Februar 1998 stattfindenden zweiten Ausstellung in der Galerie mmg in Tokyo führte ich mit Nehmzow folgendes Gespräch:
Y. M.: Können sie mir sagen, wie sie sich selbst veränderten, als 1990 die Mauer gefallen ist?
N.: Es ist schwer in wenigen Worten Dinge auszudrücken, die ich jahrelang mit mir herumgetragen habe. Dass eines Tages das Volk aufsteht, dass die Macht weicht, dass das gewaltlos geht, hätte ich nicht geglaubt.
Mir gelingt es kaum mich zur DDR-Malerei zu äußern, vielleicht schon deshalb nicht, weil ich als Maler ein Teil davon war. Die stalinistische Kunstpolitik bemühte sich um flächendeckende Intoleranz. Was bei anderen zum Opportunismus oder zum Verlassen des Landes führte, brachte mich zur Einsicht: Mach dir deine Spielregeln selbst. Durch den gesellschaftlichen Druck konzentrierte ich meine Energie konsequent auf meine Arbeit und gab es auf, die Welt bewegen zu wollen. Meine künstlerische Entwicklung wurde an den Rand der Gesellschaft gedrückt. Wie es vom Propheten heißt, der im eigenen Lande nichts gilt, so hatte auch ich meine Anerkennung eher im Ausland. Das hieß: sich stellen, vergleichen, auch international und nicht nur in der DDR-Kunstinsel. Der Charakter meiner Malerei änderte sich nicht wirklich. Es fand aber eine absolute Bedeutungsverschiebung statt. Für mich hat heute das Kunstwerk - sei es ein Bild, eine Skulptur, ein Objekt oder eine Idee - stets eine eigene Individualität, es ist ein Stück Wirklichkeit, das sich selbst genügt. Ob man es an die Wand hängt ist nebensächlich. Im fernen Osten versteht man das sehr gut. Die Achtung vor den Werken, die geistige Sammlung und Konzentration auf jeweils eines scheint immer das Wichtigste.
Y. M.: Welche Erfahrungen machten sie im Westen?
N.: Es gibt keine schnellen und sicheren Antworten. Nichts ist mehr wie es war. Der Proportionssprung aus der provinziellen Enge Ostberlins in die Weltkunst war schockartig und notwendig. Es kam zu Grenzüberschreitungen, zur Zerstörung gängiger von Traditionen bestimmter Konzepte, zur Etablierung neuer Codes. Vor solchem Hintergrund mußte meine Kunst zwangsläufig wieder in eine Randlage geraten, zumal wenn ich meine künstlerische Leistung darin sah, daß ich den Bruch mit der Tafelmalerei vollzog, indem ich Grenzen nicht überschritt, sondern zurücknahm.
Die kreative Kraft, die ich durch all die Jahre zu fassen und zu beschreiben suchte, liegt das weiß ich nun, nicht in Erreichtem oder zu erreichenden Zuständen, sehr wohl jedoch in dem Weg dazwischen.
Ich kann mir keinen Künstler vorstellen, der nicht sowohl im Abenteuer als auch im dauernden Übergang lebt. Bereit zum Sprung ins Leere.
Ich habe mich dadurch neu selbst angenommen.
Die Unabhängigkeit und Freiheit, die heute die zeitgenössische Kunst genießt, bringt den Hang zu Leichtfertigkeit, zu tüftelnder Willkür und funktionsloser Form mit sich. Im Namen der Freiheit hat man unzählige Mittel gefunden, um wahre Freiheit einzuengen, oder zu ersticken. Wieviel Banalitäten werden beklatscht und gar noch als revolutionär hingestellt.
Y.M.: Hat sich ihr künstlerischer Ausdruck nach 1990 geändert?
N.: Meine Kunstwerke bilden heute nicht mehr ab, sondern sind eigenständige Realitäten geworden. Es war unerläßlich neue Formeln zu finden, die mein Werk effizienter machen. Findet das breite Publikum in bestimmten künstlerischen Formen seine volle Befriedigung, haben diese Formen schon ihre ganze Kraft verloren. Zudem setzt bei mir Anfang der 90er Jahre eine gedämpfte, zur Monochromie neigende Farbigkeit ein. In einer meditativen Haltung suche ich die Anbindung an fernöstliche Philosophien. Die Fähigkeit zur Meditation ist für einen authentischen Künstler Voraussetzung. Die Meditation muß aber immer im Kopf mit dem Material begleitet werden, da man sonst keinen Schritt nach vorn tut. Meine Kenntnis und Wertschätzung der fernöstlichen Kunst führte somit zur Anwendung einer identischen oder verwandten Technik; nämlich der eines gelenkten Zufalls, bei der die Konzentration aller geistigen Kräfte einen freien Duktus ermöglicht und die unbeabsichtigten Effekte ausnutzt und einbezieht. Ein Bemühen um vordergründige Ästhetik ist mir dabei fremd. Im Gegenteil, ich stelle in meinen Bildern Fragen, die auf das Wesenhafte des Daseins und der ihm zugrunde liegenden Zusammenhänge gerichtet sind.
Y. M.: Welches sind die geographischen, historischen und technischen Wurzeln in der künstlerischen Gestaltung ihrer Arbeit?
N.: Die Wurzeln lagen über viele Jahre in der klassischen Moderne Europas und in Berührungen mit zeitgemäßen Strömungen in der Kunst. Aber schon in den 80er Jahren begann eine Auseinandersetzung mit der ostasiatischen Welt und ich orientierte mich an der japanischen Ästhetik und Abstraktion, der aber nicht die Gegenstandslosigkeit als Ziel gilt. Die große Überraschung der fernöstlichen Ästhetik, die die Ästhetik unserer Gegenwart stark beeinflußt hat, liegt darin, daß künstlerische Tätigkeit zur allumfassenden Lebensgestaltung dient. Das wurde immer mehr Grundlage meiner Selbstfindung, die Annäherung ging auf rein sinnliche Art vor sich. Erst die Sensibilität verleiht Form und Farbe jenen "inneren Klang" von dem Kandinsky sprach. Sinnlichkeit ist das Wesentliche. Leben gegen das Auge ausschließlich kopfgesteuert, ist nicht meins. Damit sage ich nichts gegen die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Kunst-Strömungen. In einer Epoche zunehmender Veräußerlichung unserer Lebens- und Bewußtseinsformen, muß die Form, die der Maler seinem Werk gibt, eng mit der Ideologie der progressiven Kräfte seiner Zeit verbunden sein.
Y. M.: Sie legen großen Wert auf den Bildträger, auf das Papier. Sie lieben die unterschiedlichen Arten des Papiers. Was sind die Bildträger und was ist die Bildfläche für Ihre Arbeit? Was ist Malerei, was ist Farbe, was ist Form für sie?
N.: Papier hat eine eigene Sprache und Poesie. Meine Begegnung mit "Washi", dem handgeschöpften japanischen Papier, oder dem Veroneser Bütten ist zum Dialog mit unterschiedlichsten Traditionen und einer Annäherung an Vergessenes/Geheimnisvolles geworden. Unterschiedliche Materialien werden in Verbindung mit dem Papier zu etwas Ganzheitlichem, alles ist Neubeginn. Auf meinen Reisen entdecke ich immer wieder Gegenstände, von alltäglicher Stofflichkeit und abgenutzten Realien, die ich zunächst in assemblageartig angelegte Kompositionen integriere. Ihre Geschichte bleibt ein Geheimnis. Beim Erinnern wird altes neu entdeckt, etwas aus der Tiefe des Vergessenen herausgenommen, mit dem spielerisch umgegangen werden kann. Dabei bleibe ich der Stofflichkeit und ihrer Struktur verpflichtet. Inhalt meiner Kunst ist es, die Form zu finden, das Gesehene weiterzugeben. Jeder Künstler übernimmt die traditionellen Formen seiner Zeit und seiner Umgebung. Die künstlerische Originalität besteht darin, wie Phantasie zur Form wird.
Bei einem noch leeren Blatt entsteht eine rätselhafte Spannung, aber schon die kleinste Verletzung des Papiers führt in eine andere Realität. Es ist eine Annäherung an eine nicht erfaßbare Räumlichkeit, die weit mehr als nur die Auseinandersetzung mit dem Material bedingt. "Es ist nicht schwer die Dinge zu machen, sondern es ist schwer sich in den Zustand zu versetzen, sie zu machen." (Brancusi, 1930) Jeder Betrachter sollte Wirklichkeiten entdecken, ohne das Geheimnis gänzlich zu durchbrechen. Jede Wahrnehmung öffnet die Sinne, erlaubt uns die Berührung aus dem Innersten und birgt den Zauber der Vergänglichkeit.
Y. M.: Sie benutzen schwarze Ölfarbe mit der sie ihre Figuren schaffen. Welche Bedeutung hat das für sie?
N.: Mitte der 90er Jahre entstand eine Serie kleinformatiger Collagen, aber auch sehr große Formate, mit einer erdhaften Farbigkeit, denen ich durch einen schweren pastosen Farbauftrag, der Farbe schwarz, als Körper besondere Bedeutung zumesse. Sie rechnet mit ihrer reliefartigen Wirkung im Licht. Es entstehen schattenwerfende Aufbrüche, eine haptisch Relieffierung der Maloberfläche. Die Malerei wandelt sich zum Zeichen, die Farbe zur Form. Schwarz ist für mich Symbolisierung von Ruhe und Konzentration auf mich selbst. Die rein skriptuale Geste, die den Energiestrom lenkt, verdrängt alle anderen Inhalte. Dabei bleibt die abstrakte Komposition Experiment, sie ist nicht Erfüllung meiner Kunstvorstellung. Das Symbol als anschauliches Zeichen, das einen tieferen Sinn, einen Begriff oder Vorgang andeutet, kann nicht losgelöst von meiner Sicht auf die Welt gesehen werden. Die pastosen Formen sind Wesensstenogramme meiner Person; die Formung läßt der Erzählung kaum und der Darstellung gar keinen Platz. Die Anwesenheit von Zeichen kann aus der Erinnerung geschöpft sein. Sie ist Folge von Ideenverbindungen, sie gehorchen jedenfalls einer eigenen bildlichen Logik innerhalb der Gesamtkomposition. Ihre Bedeutung ist vielfältig und abhängig von ihrer Beziehung zu den weiteren Elementen des Werkes.
Ich halte dabei am Sichtbaren fest, verfremde und verallgemeinere jedoch soweit, daß eine Verdichtung zu Symbolen eintritt. Ein Bild soll sein wie ein Zeichen. Meine Bildzeichen charakterisieren sich in einer Sinnlichkeit, die mich als einen gar nicht zeitgemäßen Künstler ausweisen, aber ich bin ich und ich bin heute. Kunst mache ich nur, um zu erfahren ob es ein Glück ist, auf dieser Erde zu leben oder nicht.