Texte
Matthias Flügge über Nehmzow (1995)
In einem Interview anlässlich der Buchmesse hat die rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller gesagt: Die Sprache lässt sich nicht belügen, sie ist schlauer als wir. Nun klingen solche Sätze von Autoren immer gut und transportieren den Mythos vom Künstler als Medium eines überindividuellen Willens in eine illusionsarme Zeit. Wir erleben ja zur Zeit nicht nur eine Relativierung der Sprache allgemein, sondern wir erfahren, daß es offenbar verschiedene Sprachen gibt, die ineinander zu übersetzen, unmöglich scheint. In der bildenden Kunst ist daraus ein Nebeneinander kommunikationslos koexiestierender Sprachen entstanden, deren Grenze nicht immer genau der Ost-West-Teilung entspricht, aber auch damit zu tun hat.
Nach der Ablösung der Avantgardeidee infolge der Einsicht in die Ausweglosigkeit des Fortschrittgedankens hatten wir dieses Nebeneinander schon akzeptiert und uns in ihm eingerichtet, ehe der Fall der politischen Grenzen eintrat. Und jetzt leiden wir an einer Art Phantomschmerz, weil sich paradoxerweise mit der Ablösung der politischen Konfrontation das künstlerischen Nebeneinander der Sprachen wieder ideologisiert hat. Das heißt, es wird die Abschaffung des Fortschritts als Fortschritt deklariert und im Namen dieser Verwirrung gegen diejenigen Kunstformen polemisiert - und zwar durchaus wieder ideologisch - die sich mit der Vergewisserung menschlicher Probleme befassen im ganz ursprünglichen Sinne von Figur und Raum und Form. Nehmzow zählt zu diesen. Er hat seit Jahren an einem Werk gearbeitet, das aus dem Vertrauen in die künstlerischen Möglichkeiten des Bildes resultiert.
Die Begegnung der zeichnenden Hand mit der Fläche weißen Papiers gilt ihm als Abenteuer. Aber sich darauf einzulassen, bedeutet eine bewußte Entscheidung, die sich nicht auf Ignoranz gründet, sondern in Kenntnis dessen getroffen wird, was in der Welt geschieht. Aber in der Konsequenz einer solchen Kunst liegt gerade ein Beharren ohne Dogmen. Es ist das beständige Verwandeln und allmähliche Vertiefen der Form, der Entwurf der Langsamkeit als ein Gegenbild zur Attitüde der Negation von Form - auch im sozialen Raum - die sich im Wettlauf mit einer katastrophischen Bilderwelt befindet und im Bezugsrahmen der Kunst nicht mehr faßbar ist.
Die Arbeiten von Nehmzow haben dafür ein eigenes Vokabular entwickelt: das der Melancholie in den Schwärzen, den collagierten Resten der alltäglichen Dinge, den archaischen Zeichen und Dunkelheiten. Wir stehen vor solcher Arbeit in der plötzlichen Einsicht ihrer scheinbar anachronistischen Funktion des Gegenbildes. Das bedeutet letztlich nichts anderes, als dass nicht nur die künstlerische Haltung, aus der sie resultieren, sich selbst treu bleibt, sondern sich auch die Aufgabe, die dieser Kunst im Spektrum unserer Wahrnehmung sich über den Wechsel der Zeit nicht verändert hat. Die individuellen Dispositionen von Nehmzows Arbeit lagen im Figürlichen. In der Beschränkung auf elementare Situationen einzelner Figuren, Frauenakten zumeist, gewann er die Souveränität sich zu lösen. Vor Jahren schon entwickelte der Maler seine kalligraphischen Zeichen, die die Figur ersetzten und eine Metaebene von Dialog und Mitteilung erreichten. Sowohl in den Motiven, die sich vielfältiger Anregungen aus ganz unterschiedlichen Kulturräumen bedienten, als auch in ihrer Wirkung in Kostbarkeit und Dichte, kreisten sie um das Thema von Nähe und Ferne. Nehmzow arbeitet mehr und mehr aus dem Material, dies war ein Reflex aus der Entfernung. Denn nicht der bestimmte Werkentwurf bestimmte sein Tun, sondern das Vertrauen in den ästhetischen Eigenwert einer gefundenen oder erzeugten Struktur. Seine Sprache teilte etwas über die Bindungslosigkeit der Kunst mit. Die Werke wurden ins Unbestimmte entlassen.
Es ist in diesem Metier eine Frage von Nuancen, wann Botschaft zum Stil gerinnt. Nehmzow umspielt diese Grenze, sie ist ein immanentes Thema seiner Arbeit. Gerade deshalb ist diese nie beliebig geworden. In jüngeren Arbeiten hat der Maler wieder Figuren eingeführt, schwarze, pastos geformte Hockende zum Beispiel, die in die melancholische Grundstimmung einen Archaismus tragen, als säßen dort fernste Vorfahren an längst erloschenen Feuern. Und man sieht erstaunt, wie aus dieser Ferne unter den Händen des Malers eine neue Nähe wird.
Matthias Flügge über Nehmzow (2004)
Nehmzow baut sein Werk aus Bruchstücken der realen Gegenwart. Und zwar aus einer Gegenwart, die er in Zeichen übersetzt und damit in einen (kunst)historischen Zusammenhang stellt, ehe sie im Bild erscheint. Sein Thema ist die Frage: Wie nehmen wir wahr, was können wir überhaupt wahrnehmen in einer Welt der Überdeutlichkeit, die kaum noch Spielräume lässt für Phantasie und die Vieldeutigkeiten der Bilder. Seine Arbeit zielt auf die Wiederentdeckung verloren gegangener Wahrnehmungsformen, auf Material, Form und das Geheimnis, das sich unter den Oberflächen verbirgt. Nehmzows reale Gegenwart ist vom Miteinander ästhetischer und kultureller Zeichen ganz unterschiedlicher Herkünfte bestimmt. An den Bildern der Medien und ihren Versprechen geht er achtlos vorbei. In seinem Atelier, das ein Arsenal noch unentdeckter Möglichkeiten ist, trägt Nehmzow zusammen, was er von seinen Exkursionen mitbringt: realen Reisen und den „sentimental journeys“, die ihn oftmals weit zurück in archaische Gefilde führen. Dorthin, wo Feuer und Lava sind, wo Asche und zartes Grün, Sonnenlicht und Schwefelschwaden aufscheinen, zugleich als Anfang und Ende des Lebens und der Dinge.
Dichte und Leichtigkeit, die Verfahren des Ausgleichs psychischer Kräfte, Materialität der Farbgespinste und kalligraphische Verweise, Naturmomente und die Gerätschaften des Überlebens, Patina und Hellsicht, Fundstücke und hermetische Formulierung: Alles dieses amalgamiert Nehmzow auf Blättern und Leinwänden. Und es entsteht etwas Drittes: Bilder, die uns in der schmerzlichen Endlichkeit eine hoffnungsfrohe Schönheit sehen lassen.
Hela Baudis über Nehmzow (1993)
Tage der Erinnerung Collagen von Nehmzow
Wie viele andere Künstler auch, hat Nehmzow auf den gesellschaftlichen Wandel in Deutschland mit neuen Erfindungen reagiert. Er verließ zeitweilig die vertrauten Bildräume, in denen er sich lange bewegt hatte, ließ die kostbare Farbigkeit seiner Stilleben, Landschaften und Interieurs zurück und entfernte sich zunehmend von den Gegenständen. So fußen die Werke zwar auf den einst mühevoll erarbeiteten Ausdruckswerten, doch jetzt greift darin die freie Form nach Raum und bekennt sich zu ihrem Eigenleben. Undenkbar dieses Ausschreiten ohne die Möglichkeit der inzwischen offenen Wege nach Süd, West und Fernost. Zwei Reisen nach Japan, mehrere nach Italien und Frankreich zwischen 1990 und 1999 bewirkten den Umgang mit bislang unerprobten Materialien.
Fasziniert von Reispapieren und Tuschesteinen, bewegt von einem anderen Naturverständnis, verwandelte er vor allem fernöstliche Impulse zu neuen Seh- und Denkabenteuern. Als adäquates Medium wählte er die Collage. Gerade diese spielerische Art der Gestaltung berührt japanische Philosophien, denn nicht Vollkommenheit, sondern Vervollkommnung gilt als erstrebenswertes Ziel. Japaner meinen, ein Werk ist erst dann gut erzählt, wenn es nicht alles sagt. Nemzows anfänglich kleinformatige Japan-Collagen, die man Papiergedichte nennen möchte, sind solchen Überlegungen nahe, etwa den japanischen Kurzgedichten, die Tanka oder Haiku genannt und aus drei bis fünf Zeilen gebaut werden. In einem sensiblen Reduktionsverfahren komponiert auch Nehmzow wenige Bildelemente zu suggestiven Papierpoesien, in denen das Vieldeutige den Vorrang behält. Auf den Papier Collés treffen spielerisch-leichte Formen und Konstruktionen kompakter Bildelemente zusammen. Und während die häufig brüchigen, fein strukturierten Papiere Vergangenes assoziativ entstehen lassen, schaffen Buchstaben, Worte im Bildgefüge Verbindungen zum heute. Der asymmetrische Bildaufbau folgt dem Grundsatz der Japaner, dass Schönheit in asymmetrischer Ordnung sei, einschließlich das Spiel mit unbekannten kalligraphischen Zeichen und die Dominanz der Farben Schwarz und Braun.
Nehmzows Reisen fanden in kurzen Intervallen statt, so dass sich Erlebnisse überlappen, Verbindungen zwischen Kulturen unmerklich, ja unbewusst herstellen. Überraschendes Auftauchen japanischer Schriftzeichen und Worte in Arbeiten mit italienischen Titeln, wie die Einbeziehung des scheinbar unverzichtbar gewordenen Japanpapiers weisen darauf hin. Nehmzow verbindet Papiere mit anderen Materialien, spannt sie über Leinwand wie in dem großformatigen lichterfüllten Bild "Val Rahmey", eine französische Reminiszenz, oder montiert sie auf rostige Eisen wie im "Il Tragetto", jener abstrakten Erinnerung an die morbide Schönheit Venedigs.
Hinter jeder Arbeit steht eine Geschichte, ein Lebensgefühl - ohne ethisches Bewusstsein, wäre dies alles nicht machbar, nur so wurde er zum sicheren "Landschafter inneren Berührtseins". Mit Trouvailles des Alltags: Stofffetzen, Pappen, Drähten Klebestreifen, Holz und Eisen, unter Ausbeutung des Zufalls, reagiert Nehmzow eher leise auf die gegensätzlichen Nachrichten der Welt. Er markiert über Zeichen, Zahlen, Buchstaben, Kreise, über reliefartig schwarze Farbschichten. Tage der Erinnerung.
Hela Baudis,
Leiterin des Kupferstichkabinets Staatliches Museum Schwerin
Kunstsammlungen, Schlösser und Gärten
Ursula Prinz über Nehmzow (2003)
Phantastische Welten
Wenn man Nehmzow im Atelier besucht, findet man sich in einem aus Objekten, Papieren und Bildern zusammengewürfelten bunten Neben- und Durcheinander wieder, das auf den ersten Blick Inbegriff des Chaotischen zu sein scheint, bis man erkennt, dass man damit zugleich das Schöpfungsprinzip des Künstlers vor sich hat. Inmitten einer Welt, die sich aus vielen Eindrücken und Einflüssen zusammensetzt, erfährt sich der künstlerische Mensch als Arrangeur, Verwerter und Deuter einer aus der zufälligen Begegnung von zum Beispiel Zeichen, Klecksen und Abfall vermischten Entourage.
Das Kunstwerk entsteht daraus derart, dass zunächst keine Wertung der Teile, die da aufeinandertreffen, vorgenommen wird. Ein japanisches Schriftzeichen kann dieselbe Wichtigkeit haben wie ein Klecks schwarzer Farbe, eine alte Zeichnung oder ein Stück Holz. Erst die ebenso spielerische wie bewusste Un-Ordnung durch den Künstler bringt die mehr oder weniger interessanten Objekte und Teilstücke zum Leben. Sie bekommen eine Bedeutung, die ins Erzählerische gehen kann, ohne jedoch eine eindeutig bestimmbare Geschichte vorzuführen. Das Geschehen bleibt diffus und vieldeutig. Doch immer klingt etwas Gegenständliches an, zumeist eine menschliche Figur oder ein Tier, bzw. Fabelwesen. Neben duftig leichten Collagen und Mischtechniken, gibt es auch schwere, mit schwarzer Farbe überladene Arbeiten. Schweres und Leichtes kann sogar im selben Werk zusammentreffen und sich gegenseitig überlagern. Transparenzen und Überdeckungen alternieren. Die Einbeziehung von Objekten versteht sich dabei von selbst. Es kommt kaum vor, dass sich dabei konstruktive Verbindungen ergeben. Das organisch Wuchernde entspricht eher dem künstlerischen Charakter von Nehmzow.
So unterschiedliche Einflüsse wie das Erlebnis Italiens oder dasjenige Japans beherrschen die Vorstellungskraft des Künstlers im letzten Jahrzehnt. Eine neue Farbigkeit und eine exotische Ästhetik, die sich zum Beispiel in hohen, schmalen Formaten kundtut, lässt sich vor allem in den Collagen, aber auch in Bildern der letzten Jahre verfolgen. Dunkle Flecken lassen sich mit der Gestalt von Geishas assoziieren und japanische Schriftzeichen und Papiere, die der Künstler aus Japan mitgebracht hat, finden immer wieder Verwendung. Die Farbigkeit ist reduziert. Neben den dunklen und ockerfarbenen Erdtönen gibt es aber gelegentlich auch eine hellere, leichtere Farbigkeit mit Pinktönen, Rot und lichten Blaus, die locker gesetzt werden und manchmal einen an Klee erinnernden Schwebezustand hervorrufen.
Es gibt keine einheitlichen Räume oder Perspektiven mehr, auch keine Gartenlandschaften. Eher findet sich eine diskontinuierliche Szenerie mit skurrilen, an Kinderzeichnungen erinnernden Größenverhältnissen oder auch ein palimpsestartiges Durchscheinen und Ineinandergreifen von Bildebenen. Verrätselung findet statt, ohne dass es wirklich ein Rätsel zu lösen gäbe.
In einer seltenen Mischung treffen hier Unbekümmertheit und Schwermut aufeinander. Intellektuelles Kalkül entfällt hingegen ganz. Farbe wird selber zum Akteur, als millimeterdicker Tropfen oder als pastose Linie. Als dicker, energiegeladener Ballen kann sie Partner einer ganz gegenständlichen Darstellung, eines grazilen Pferdes zum Beispiel, auftreten. Die Kombinationsmöglichkeiten sind uneingeschränkt, Größenverhältnisse irrelevant.
Versucht man, diese Kunst stilistisch einzuordnen, so fällt einem Surrealismus, Tachismus und vielleicht sogar der Dadaismus mit seinen Objektcollagen ein. Auch dass diese Kunst aus einer zunächst gegenständlichen Malerei heraus entwickelt worden ist, scheint immer wieder auf. Der verehrte Lehrer Dieter Goltzsche spielte bei der künstlerischen Entwicklung von Nehmzow ebenfalls eine ganz wesentliche Rolle. Noch immer begreift er sich als einer typisch berlinischen Malerschule zugehörig. Letztlich handelt es sich bei der Malerei von Nehmzow aber doch um eine ganz persönliche Willkür, die ohne Regeln, aus der Mitte des eigenen Daseins heraus agiert und aus der Fülle des Materials und der Anregungen, die sich daraus ergeben, schöpft. Bezeichnend ist, dass dieses Material nicht etwa politisch oder technisch, sondern zufällig und überwiegend poetischer Natur ist, beziehungsweise vom Künstler in Poesie verwandelt wird, und zwar in eine Poesie die aus der Sinnlichkeit geboren wird. Manche der Arbeiten meint man geradezu schmecken zu können, obwohl sie alles andere als kulinarisch sind.
Dem Schwarz kommt im Werk von Nehmzow eine ganz besondere Bedeutung zu. Abgesehen von der graphischen Rolle, die diese Unfarbe immer einnimmt, hat es oft eine teigige oder schrundige Materialität, die das Werk davor bewahrt zu schön zu werden und ihm eine gewisse, fast brutale Alltäglichkeit verleiht, bis hin zum Graffitohaften. Die taktile Wirkung von Oberflächen trägt wesentlich zur sinnlichen Ausdrucksstärke dieser Kunst bei, die sich von Inhaltlichkeit immer öfter loslöst. Gerade deshalb ist ihre Wirkung vielfältig. Der individuellen Empfindung und Assoziation sind keine Grenzen gesetzt. Durch den Erfindungsreichtum des Künstlers wird die Fantasie des Betrachters in Gang gesetzt und der Einstieg ins Land der Träume wird frei für jedermann.
Für Nehmzow, Tazuo Kawabata, Kyoto 2011
Was bei Nehmzow in den letzten Jahren gewachsen ist, seine Wirkung entfaltet, zeigt sich wie ein aufgeblätterter Fächer der die Welt darstellt.
Nehmzows reale Gegenwart ist vom Miteinander ästhetischer und kultureller Zeichen unterschiedlicher Herkünfte bestimmt, die alle dem Zweck untergeordnet sind, eine seinem künstlerischen Wollen entsprechende Formenvielfalt zu entwickeln.
In seinem Atelier, das ein Arsenal unentdeckter Möglichkeiten birgt, trägt Nehmzow zusammen, was er von seinen Unterwegssein mitbringt.
Fundstücke, realer und gedanklicher Art, sind poetische Anregungen für die weitere Arbeit. Das intellektuelle Spiel mit Bedeutungen wird dabei dominiert von materialästhetischen Intentionen. Seine künstlerische Annäherung an unterschiedliche Lebensformen entsteht rein sinnlich.
So hat er den japanischen Formenkodex mit all seinen Potentialen und Techniken zutiefst verinnerlicht, er ist in die Welt der Abstraktion und Reduktion eingetaucht. Damit jongliert er jetzt, als sei es schon immer das Ureigenste gewesen. Er schafft eine Symbiose von Europäischer Moderne und traditioneller japanischer Formenstrenge, einen an Geschichte reichen Bilderbogen. Manche der Geschichten offenbaren sich sogleich, für andere braucht es Zeit.
...Gold, viel Gold verarbeitete Nehmzow in seinen neuesten Collagen Es wirkt äußerst anziehend, freudig, sinnlich. Dazwischen immer wieder das mystische Schwarz, welches Nehmzow einmal als Symbolisierung von Ruhe und Konzentration auf sich selbst bezeichnet hat.“...(Constanze Suhr in tip. September 2009) Die Reflexionen über seine Ausflüge in die Welt sind Ergebnisse, sind Malerei, Erfindungen und Findungen. Die Bildsprache ist der Widerspruch. Nehmzows Werke entstehen nicht aus einem vorgefassten Plan, sondern aus dem eigentlichen Tun, dem Prozess des Gestaltens. Er sucht keine Motive sondern Begegnungen. So ist ein Werk entstanden dem ich zutraue, wirksam zu sein. Wirksam, weil es da eine Haltung gibt und trotzdem erfasst Nehmzow, was und wie er es will. Nun ist es an dem Betrachter, die so entstandenen Bilder zu lesen und sich ihnen zu öffnen.
Heinz Stahlhut über Nehmzow 2012
1997 hat sich Nehmzow im Gespräch mit dem japanischen Galeristen Yusaku Masuda folgendermassen über seine Kunst geäussert: „Für mich hat heute das Kunstwerk – sei es ein Bild, eine Skulptur, ein Objekt oder eine Idee – stets eine eigene Individualität, es ist ein Stück Wirklichkeit, das sich selbst genügt.“
Es mag erstaunen, dass Nehmzow hier die selbstgenügsame Autonomie des Kunstwerks für seine auf den ersten Blick gegenständlich erscheinende Malerei reklamiert. Denn die Loslösung von der äusseren Realität nahm seit dem vergangenen Jahrhundert vor allem die abstrakte und konkrete Malerei für sich in Anspruch. Und dennoch erreicht Nehmzows Malerei das selbst gesetzte Ziel.
Man kann feststellen, dass der Künstler sich Anfang 1990er Jahre von der bis dahin gepflegten buntfarbigen Malerei abwendet. Statt Landschaften und Stillleben, die an die offene und leichte Pinselfaktur eines Henri Matisse erinnern, findet sich nun eine Konzentration auf die Farbigkeit der Trägermaterialien Papier oder Leinwand und der eincollagierten Fundstücke wie Stoffe oder Metall. Bei den Malfarben hingegen beginnt nun eine vorzuherrschen: die „Un-Farbe“ Schwarz; in pastosem Auftrag bedeckt sie oftmals die weite Teile der Bildfläche.
Man mag diese Wandlung des künstlerischen Schaffens mit den einschneidenden politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen oder auch den nun einsetzenden regelmässigen Auslandsreisen in Zusammenhang bringen, die den Künstler nach Österreich und Italien, in die Schweiz und immer wieder nach Fernost führen. Doch dem aufmerksamen Blick entgeht nicht, dass sich der Wandel schon länger angebahnt hatte.
Schon in den zuvor erwähnten Bildern der frühen 1990er Jahre hatte Nehmzow das Schwarz prominent eingesetzt; hier vor allem, um die Buntfarben wie Blau, Violett und Rot in ihrer Wirkung zu steigern; wie schon bei der Malerei von Matisse war Schwarz nicht mehr die dienende Farbe, mit der sich die Illusion von plastischem Volumen erzeugen liess, sondern eine „Bunt“farbe unter anderen. In anderen Bildern dieser Jahre nimmt das Schwarz aber immer mehr überhand, beginnt die Bildfläche zu beherrschen, aus der nur noch einzelne farbige Flecken hervorleuchten. Von hier aus war es denn auch kein weiter Weg mehr zu den pastosen, schwarzen Farbmassen der Bilder seit der Mitte der 1990er Jahre. Und doch ist die schwarze Farbe hier anders eingesetzt als noch wenige Jahre zuvor.
Auffällig ist beispielsweise, dass Nehmzow seit der Mitte der 1990er Jahre vermehrt alltägliche Materialien wie Stoffe, aber auch bedrucktes Papier oder mit Siebdruck bedruckte Leinwand in seine Bilder aufnimmt. Man mag den Einbezug der Zeitungsfetzen etc. als Übernahme von Materialien und Motiven aus der Populärkultur und damit als Kennzeichen einer Kunst deuten, die sich wie die Pop Art der 1960er Jahre bewusst der alltäglichen Realität zuwendet. Dass dies bei Nehmzow Elemente des japanischen Alltags sind, bringt ein Moment der Fremdheit und Irritation in seine Bilder. Von besonderer Bedeutung sind das bedruckte Papier und die bedruckte Leinwand aber für die Präsentation des Farbmaterials selbst. Dadurch nämlich, dass man die Schrift auf dem Papier teilweise gerade noch lesen, die gedruckte Figur gerade noch erkennen kann, wird das Farbmaterial ins Bewusstsein gehoben, das sie eben nur nahezu verdeckt. Das erklärt auch die weitgehend auf einfache Formen reduzierten Motive, wie die wiederkehrende, kegelförmige japanische Trommel, oder gar sich dem Ungegenständlichen annähernden Farbschwünge. In einer paradoxen Verschränkung bedingen sich hier unvollständige Darstellung des Einen, nämlich der gegenständlichen Form, und vollständige Sichtbarmachung des Anderen, nämlich der Malfarbe, gegenseitig.
Damit hat Nehmzow in vielen seiner Arbeiten seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die Farbe selbst nicht als Stoff der Darstellung, sondern in ihrer materiellen Präsenz hervorgehoben: Die Farbe ist hier im Sinne von Robert Rymans kluger Unterscheidung (1) weniger „colour“, also optisch wahrzunehmende Buntfarbe, sondern „paint“, d. h. plastische, fast haptisch zu begreifende Farbpaste.
Darüber hinaus ermöglichst die schwarze Paste es, das reale Licht in doppelter Weise einzufangen: Einerseits entstehen durch die Plastizität der Farbe sich je nach Standort des Betrachters verändernde Schattenwürfe; andererseits reflektiert die glatte schwarze Oberfläche das Licht selbst. Diesen Doppelcharakter hat auch das Blattgold, das einerseits deutlich als aufgelegtes Material erkennbar ist, sich zugleich aber in der Reflexion materiell aufzulösen scheint.
Bedeutsam ist des Weiteren das Nebeneinander von pastos aufgetragenen Farbklecksen und Zahlen, Buchstaben, gestischen Kritzeleien in jüngsten Arbeiten wie Die Erde an meiner Schnur oder Ganz rasch die Nacht durcheilen, beide 2011. Teilweise erscheint das Farbmaterial wie nur aus der Tube auf die Leinwand gedrückt, teilweise ist es anschliessend noch weiter bearbeitet. Diese Doppelnatur veranschaulicht geradezu archetypisch den Vorgang des Malens selbst, vom Ausdrücken des Farbmaterials bis zu seiner wie immer gearteten Ausbreitung auf der Leinwand. In diesem „Unfertigen“, damit aber auch Zeitlich-Prozesshaften liegt denn auch Nehmzows produktiver Umgang mit dem plastischen Farbmaterial.
Dem Zeitlich-Prozesshaften, das in den Arbeiten von Olaf Nehmzow eine wichtige Rolle spielt, sollen denn auch abschliessende Bemerkungen gewidmet sein: Der Künstler veranschaulicht in seinen Bildern nicht nur den Malprozess, sondern das Farbmaterial selbst löst einen dauernden Veränderungsprozess aus. Das für die satte schwarze Farbe als Bindemittel dienende Öl „blutet“ nämlich in das Trägermaterial aus und färbt dieses so allmählich mit ein. Dieser Eindruck wird durch den häufig verwendeten gelblichen Schusterleim noch verstärkt.
Man kann durchaus das Vorbild Dieter Roths oder Joseph Beuys’ bemühen, um die Stossrichtung dieses Phänomens zu erklären. Roth injizierte in seinen Collagen mit Salamischeiben recht erbarmungslos die Vergänglichkeit in das als ewig geltende Kunstwerk. Denn die Wurstscheiben geben allmählich ihr Fett in das sie einfassende Papier ab und ruinieren es damit, während sie selbst spröde werden und zerfallen. Beuys hingegen feierte mit Arbeiten wie dem monumentalen Unschlitt, 1977 im Rahmen der Skulptur Projekte Münster entstanden, gerade die Lebendigkeit des Kunstwerks. Denn der riesige Block aus geschmolzenem Stearin und Fett bewahrte noch Jahre die Temperatur des Schmelzvorganges, wie ein in ihm steckendes Thermometer veranschaulichte.
Dieses Prozessuale als Zeichen der Lebendigkeit des Kunstwerks dürfte auch Nehmzow – darin Beuys wohl näher als Roth – gereizt haben, seine Bilder mit der pastosen schwarzen Farbe auszustatten. Dieses Prozesshafte ist es auch, das als Schlüssel dienen kann für das Verständnis vieler der poetischen Bildtitel wie dem einer der jüngsten, kleinformatigen Collagen: Jeder Moment ist entscheidend.
Heinz Stahlhut
(1) Robert Ryman hat in einem Interview mit Phyllis Tuchman im Mai 1971 die kategoriale Unterscheidung zwischen diesen beiden Erscheinungsformen von Farbe getroffen, s. „Two Conversations: 1971 and 2002. Excerpts from an Interview with Robert Ryman“, in: Robert Ryman, Ausst.Kat. Thomas Amman Fine Art AG, Zürich 2002, o. S
Ingeborg Ruthe „Roter Faden, schwarzes Feuer – Heidi Vogel und Olaf Nehmzow in der Pankower Galerie Pohl“in Berliner Zeitung, Nummer 109, Kunst/Konzerte, Seite 7
...Nehmzow übersetzt, was er sieht, in Zeichen: ein Fetzen roter Stoff, ein Stück bedrucktes Papier, ein roter Faden. So sollten wir die Überdeutlichkeit, die überreizende Bilderflut der Welt noch wahrnehmen, vielleicht ihre vielfältigen Formen und ihre Schönheit überhaupt wiederentdecken. Vor Jahren schon entwickelte Nehmzow seine nahezu kalligraphischen Chiffren, die die Figur ersetzten und eine Metaebene herstellen.
Die Motive, die der Künstler sich aus disparatesten Kulturräumen nimmt, kreisen meist um das Thema von Nähe und Ferne und den Dialog. Die Collagen lassen an Bruchstücke des Alltags denken: Pappstücke, Stoff, Klebestreifen, Draht, Schnur, schwarze Farbraster und - flecken. Nehmzows Gebilde gehen ein rätselhaftes Zusammenleben ein. Die Art, wie er die Dinge zueinanderfügt, seine Lust an komischen, sogar absurden Zusammenhängen verrät den heutigen - überaus poetischen – Dadaisten.
Bärbel Mann, Auszug aus der Rede zur Vernissage der Ausstellung: Berndt Wilde und Nehmzow/Von Skulpturen und Bildern/Große Domina I und Der weiße Falter schließlich ganz irr geworden vom 5.11.2014 in der Galerie Solitaire, Berlin-Pankow
Vom Primat des Prozesses
[…] Schichten aus Zusammenfügung und Montage bestimmen auch Nehmzows Arbeit an den Collagen. […] Nehmzows Collagen auf Leinwand, Papier oder Hartfaser sind Malerei, auch wenn sie auf Papier entstehen und grafische Elemente enthalten. Auch er hat keinen Plan vom fertigen Bild im Kopf. Die Arbeiten entwickeln sich aus dem Prozess des Gestaltens heraus. Fest steht lediglich der Beginn der Arbeit, aus der sich die Komposition im ständigen Wechsel von kontrapunktischen Komponenten und deren Spannungen zueinander entwickelt. Das Prinzip der Verdichtung durch Überlagerungen aus bedruckten Japan-Papieren, Malereien mit Öl- oder Wasserfarben, grafischen Partien, in denen der Linie die Hauptrolle zukommt oder durch die Einbeziehung von Fundstücken wie Eisenblechen, - wie beim fließenden Übergang von der Collage zur Assemblage -, schließt die Dekonstruktion, das Übermalen oder Ablösen des Aufgetragenen, als produktives Moment ein. Diesen Collagen, von denen er immer mehrere parallel bearbeitet, sieht man das prozesshafte Wachsen an, das seine Wurzeln nicht im Impulsiven und Spontanen hat, sondern mit Besonnenheit und Reife zu tun hat.
Beim Übergang von der klassischen Tafelmalerei in den 1990er Jahren zur Collage hat Nehmzow seine Stilkonstanten nicht gewechselt: die Transzendenz der Bildräume und Fragilität ihrer Elemente, die sich dem endgültigen Zugriff entziehen oder die fein nuancierte Farbigkeit, die sich zuweilen in nervösen und vibrierenden Gevierten aufzulösen droht. Durch die Technik der Collage hat er Akzente verschoben, zuweilen pointierter gesetzt. Dazu gehört auch der Umgang mit der Farbe Schwarz, die aktuell oft malerisch durchgearbeitet, in konzentriertester Pigmentierung und zuweilen körnig wie Teer geformt, zum wichtigen Ausdrucksträger wird. Teilweise erzeugen die verdickten Farbflächen reliefartige Partien und dadurch atmosphärische räumliche Effekte. Manchmal überdeckt der Farbauftrag den Bildträger absichtlich nicht völlig, so dass der Ein- und Durchblick zwischen oberer Schicht und Untergrund zugleich Rückschlüsse auf den Entstehungsprozess des Bildes zulässt.
Einige von Nehmzows Bildern können auf den ersten Blick mitunter ein visuelles Chaos vermitteln. Doch hinter der energetischen Aufgeladenheit verbirgt sich stets eine konstruktive Ordnung. Seine Kompositionen sind stark rhythmisiert; das Eintauchen in deren Schwingungen kann einer Aufforderung zum Sehen gleichkommen. Es sei denn, man lässt sich auf die begleitende Korrespondenz der Bildtitel ein. Diese Titel sind nicht als Schlüssel zum Werk gedacht, geben nicht das Versprechen auf Dekodierung, sondern sind eigenständige poetische Beigaben zu den Bildern, sozusagen Verwandte im Wort. Sie verbinden die Welt des Kunstwerks mit der seines Schöpfers, seinen Erlebnissen und Gedankenanstößen und können in der Summe eine ganze Weltsicht offenbaren, die sich in Form- und Farbfindungen übersetzt hat: Der weiße Falter schließlich ganz irr geworden ist eine solche zusätzliche Spur des Wortes für das Bild, ein Angebot des Künstlers, das den Vorgang des Bilderlebens steigern kann. […]
Y. M., 2014
Landschaft mit Fremdling
Persönlich lernte ich Nehmzow erst später kennen. Seine Arbeiten jedoch entdeckte ich Anfang der 90-iger Jahre in der Galerie Condé in Paris, wohin mich meine jährlichen Reisen nach Europa immer wieder führen.
Ein frühes Bild, „Landschaft mit Fremdling“, welches Ende der 80-iger Jahre entstand, berührte mich zutiefst. Dieser „Fremdling“ findet in unterschiedlichen Zeichnungen, Collagen und Bildern bis heute konsequente Wiederholung. Ist der Gebrauch dieses Titels scherzhaft-ironisch gebraucht? Meint er den Fremden, der sich innerlich oder in dem existierenden Umfeld fremd vorkommt? Sich selbst? Stellt er die Frage nach der Unbekümmertheit in der heutigen Gesellschaft? Hebt er diese Fragestellung gleichzeitig durch die verwendeten Farben und Materialien auf?
Einige Jahre später begegneten wir uns endlich in Berlin.
Nehmzows Leben und die damit verbundene Arbeit, veränderten sich bereits radikal. Bisherige Kontakte sowie der Berliner Künstlerverband befanden sich in der Auflösung. Gleichzeitig eröffnete sich ihm eine neue, schillernde, ganz und gar bunte Welt. Während längerer Aufenthalte in Japan, Italien und der USA entwickelten sich bei ihm andere Sichtweisen, unverhoffte Möglichkeiten der künstlerischen Auseinandersetzung, neue Künstlerfreundschaften aber auch Zweifel und Existenzängste. Das Atelier war und blieb Refugium, eine Trennung zwischen Atelier und Lebensraum existiert nicht. Was mir anfänglich als absurdes, künstlerisches Durcheinander und wahllos auf den Boden geworfenes erschien, ist zweifelsohne System seiner ihm eigenen Arbeitsweise.
Innerhalb der letzten Jahre entstanden unzählige kleinformatige Collagen als autarke Kunstäußerungen, die als Vorstudien für die großformatigen Collagenbilder, die jetzt das Hauptwerk bestimmen, betrachtet werden können.
Immer wieder Ausprobieren und in Frage stellen üben einen starken Reiz auf Nehmzow aus. Dabei arbeitet er beharrlich an mehreren Bildern, wobei wiederum kleinformatige Collagen entstehen, die mitunter in großen Bildern aufgehen, ohne dadurch ihre Eigenständigkeit zu verlieren.
Das Prinzip Collage entspricht wohl am ehesten Nehmzows derzeitigem Lebensgefühl. Statt der ehemals durchkomponierten Bilder werden nunmehr einzelne Fragmente zu einem Neuen montiert. Die Titel spielen häufig auf Gedankenbruchstücke, Erlebtes, selbst erfundene Wörter und ausgedachte Geschichten an. Persönliche Erlebnisse sind durchaus erkennbar. Sie finden Eingang in geheimnisvolle Bilder, neue Farbigkeit und exotische Ästhetik.
Daheim und Unterwegs trifft wohl am genauesten die Beschreibung seines Künstlerseins. Keinesfalls ist er ein Rastloser, der die Sinnsuche im Unterwegs erleben möchte. Daheim entwickelt er Bildergeschichten. Unterwegs sammelt er nicht nur Gegenstände, wie Papierfetzen, Kartone, Überbleibsel bedruckter Tüten, verrostete, verknautschte Aluminiumdosen, Deckel und farbige Folienreste, welche Bezüge zur Alltagskultur aufweisen, sondern vor allem eigene Eindrücke, die Erlebtes widerspiegeln. Das alles montiert, klebt, wiederverwendet, verfremdet und bemalt er bis zum völlig Absurden. Er lässt eigentümliche Formen entstehen, praktiziert vergessene künstlerische Techniken. Zufall lässt Nehmzow nicht gelten.
Die Arbeiten der letzten Jahre, in kräftigen Farben, spiegeln existenzielle Lebensfreude wider, lassen mitunter die Bewunderung für die Farbigkeit historischer Holzschnitte erahnen. Er macht, wie er in einem Gespräch mit Freya Mülhaupt äußert, Kunst weitestgehend, um sich selbst am Nächsten zu sein. Er schenkt sich einen schönen Tag und richtet sein Denken und Tun nicht darauf aus, als zeitgemäßer Künstler öffentlich anerkannt zu werden. Sinnliche Bilder unterschiedlicher Werkgruppen, die nicht in vordergründiger Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen münden, regen zum Nachdenken an, haben im Werk Bestand. Kunsthistorische Vergleiche bedeuten ihm nichts. Darauf reagiert er ungehalten.
„Der Fremdling“ ist unbekümmerter und gleichsam achtsamer geworden auf dem Weg durch die Welt.
Matthias Flügge, Auszug aus der Rede zur Vernissage der Ausstellung Blickwechsel Nehmzow Malerei, Rolf Biebl Skulptur, vom 22.09.2024 in der Galerie am Klostersee
Meine Damen und Herren,
gleich eingangs will ich hier offenlegen, dass Nehmzow, Biebl und ich uns eine Ewigkeit kennen. Und diese Ewigkeit begann im tiefen Osten. Ich sage das, damit klar wird,
dass wir sozusagen aus einer hintergründig gemeinsamen Perspektive in aller Verschiedenheit auf die gegenwärtige Lage der Kultur und der Künste schauen. Denn ein nicht
geringer Teil der Feuilletons der sogenannten „Qualitätsmedien“ zeigt sich ja im Moment wieder einmal heftig umgetrieben von der Frage, was eigentlich mit den Ostlern los ist,
dass sie sich immer noch eines diktatorischen Unrechtsstaates erinnern und dabei zuweilen auch ein gewisses Wohlsein absondern.
Ich habe darauf keine Antwort und die Frage interessiert mich hier auch gar nicht. Viel interessanter sind die künstlerischen Strategien, die vielleicht helfen könnten, mit dieser Zeit
überhaupt zurecht zu kommen, und das daraus resultierende Problem, ob diese Strategien etwas Modellhaftes haben könnten oder ob sie ganz und gar singulär mit ihren jeweiligen Protagonisten
verbunden bleiben. Was, wie ich annehme, wohl hier der Fall ist.
Und zudem: Heute ist um uns herum die Wahl, das Ergebnis wird uns nicht sonderlich überraschen und danach wird der okzidentale Jammer über die Undankbarkeit wieder ertönen.
So weit, so gut! Oder eben auch nicht. Das kennen wir schon.
Was aber überrascht, ist diese Ausstellung. Sie zeigt zwei künstlerische Sprachen, die ich mir immer als in babylonischer Entfernung voneinander existierend vorgestellt hatte, bis
Biebl und Nehmzow mich um diese Rede hier fragten und nacheinander erklärten, dass es heutigentags nicht mehr darum ginge, ein harmonisierendes Miteinander vorzuführen, sondern ganz
im Gegenteil, sehr unterschiedliche Positionen aufeinander treffen zu lassen, auf dass sie aneinander kenntlicher würden, und zwar mit Respekt und gegenseitiger Achtung. Im Ernst:
Genauso war das. Und weil diese Haltung zunehmend aus der Mode gekommen ist, habe ich sofort zugesagt und bin in die Ateliers gegangen.
Zuerst zu Nehmzow, der seinen Vornamen nicht erst nach dem Auftreten des jetzigen Bundekanzlers abgelegt hat, sondern sehr viel früher und wohl, um seiner Position auf dem Spielfeld
der Kunst eine phonetische Präzision zu verleihen. Etwa so wie Messi, der auf dem Fußballfeld auch keinen Vornamen hat. Nehmzow also begrüßte mich an der Ateliertür mit dem Satz:
„Schön, dass du da bist. Das letzte Mal war das vor 35 Jahren“. Mir lag auf der Zunge: Aber du hast dich gar nicht verändert. Bevor er, wie Herr K. bei Brecht, erbleichen konnte,
fiel mir noch ein, dass er sich um 10 Jahre verrechnete hatte. Es sind nämlich nur 25 gewesen, also nicht vorgestern, sondern quasi gestern.
Es war noch dasselbe Atelier, aber es sah sehr anders aus. Die Formate sind größer geworden, die Bilder in vielem konkreter und dabei zugleich entrückter, oder besser: differenzierter.
Deutlicher noch als früher, wo Nehmzow sich schon mit einigen dunkleren Seiten des Lebens gleichsam einvernehmlich beschäftigt hatte, sah ich eine überbordende, dabei irgendwie auch
melancholische Fülle von Motiven, Materialien und Metaphern, kurz: eine Malerei von fast schon morbider Schönheit.
Nehmzow, so leuchtete mir ein, ist ganz frei geworden im Ausdruck seiner Begabung, die den sogenannten „Schmückungszweck“ mit kultureller wie autobiographischer Reflexion und
ästhetischem Übermut vortrefflich zu verbinden weiß. Ich musste an Gottfried Benns 5. Lebensmaxime denken, die lautet: „Wenn dir jemand Ästhetizismus und Formalismus zuruft,
betrachte ihn mit Interesse. Es ist der Höhlenmensch, aus ihm spricht der Schönheitssinn seiner Keulen und Schürze.“
Dabei ist unbedingt zu beachten, dass Nehmzow seit Jahrzehnten den japanischen Kampfsport Kendo betreibt, der Physis und Psyche gleichermaßen diszipliniert und von der Devise ausgeht:
„Es ist nicht wichtig, ob man selbst getroffen wird, sondern entscheidend ist der eigene Schlag. Denn: Wer verteidigt, verpasst die Gelegenheit zum Angriff!“
Nehmzow, der eigentlich ein Kind der Berliner Schule war, bei Hans Vent und Dieter Goltzsche in Weißensee studiert hat, erkannte früh, dass deren Wege nicht weiter beschritten werden konnten,
wollte man nicht in eine epigonale Position einrücken, wo es sich schon einige andere gemütlich gemacht hatten. Damals erarbeitete er die Grundlagen seines ästhetischen Konzeptes, ohne den
Kontext von deren Herkunft zu verleugnen.
Doch erst, als dann später die Mauer fiel, war die Kunstwelt offen. Zwar war die schon damals und ist es noch heute, glaubt man den einschlägigen Zeitschriften, Messen und Ausstellungen,
mit ganz anderen Dingen befasst als mit ausschweifend phantastischen Material- und Bildcollagen, mit schwarzen „Teerfarben“, glänzendem Gold und Trouvaillen aus dem kulturellen Inventar
von weit entfernten Gegenden und Zeiten.
Doch Nehmzow folgte, darum unbekümmert, der Kendo-Devise: „Entscheidend ist der eigene Schlag“. Oder, um es mit der 3. Lebensmaxime von Gottfried Benn auszudrücken, die da lautet:
„Vollende nicht deine Persönlichkeit, sondern die einzelnen deine Werke. Blase die Welt als Glas, als Hauch aus einem Pfeifenrohr: der Schlag, mit dem du alles löst: die Vasen, die
Urnen, die Lekythen - dieser Schlag ist deiner und er entscheidet.“
Nehmzow fand Benns Antike im fernen Osten, in Japan. Seine Japanophilie wurde zu einem entscheidenden Kraftquell seiner Arbeit. „Kulturelle Aneignung“, die auf Verehrung beruht,
für Nehmzow war es ein Glück. Es ergaben sich Reisen und Ausstellungen, seine Arbeiten fanden den Weg nicht nur in japanische Sammlungen und Nehmzow baute im Gegenzug seine aus
Japan importierte Holzschnittsammlung aus.
Im Berliner Kunstgewusel tauchte er nur noch sporadisch auf, schon eher in wärmeren Ländern Europas oder den verschiedenen Gegenden Amerikas. Und aus alldem amalgamierte er gleichsam
sein Werk voran, ganz unbekümmert vorbei an den ideologiegetriebenen Kunstrichtern, die ja noch immer mit der weiteren Verengung des künstlerischen Denkens und der davon berührten
menschlichen Sinne beschäftigt sind.